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Handeln die märkte rational?

By Peter Rosenstreich
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Die Märkte ziehen wieder an, nachdem sie am 23. März auf einen Tiefstand gefallen sind - trotz der Furcht vor einem Anstieg der absoluten Zahlen bei Infektionen und Todesfällen, rückläufiger Konjunkturdaten, steigender Arbeitslosigkeit und einer Besorgnis erregenden Zunahme gemeldeter Sekundärinfektionen mit COVID-19. Auch wenn es zahlreiche Erklärungen für die deutliche Markterholung gibt, kann uns keine so richtig überzeugen. Wir gehen von einer allgemeinen überlagernden Theorie aus: Solange keine strukturellen Veränderungen eintreten, wird der Markt dem aktuellen Trend weiter folgen. Dies bedeutet, dass bei Aktien weiteres Abwärtspotenzial oder zumindest für die Marktrally ein begrenztes Aufwärtspotenzial besteht.

Ersten Überlegungen zufolge lassen Anzeichen für eine Abflachung der COVID-19-Kurve darauf schliessen, dass sich das Abstandhalten und andere staatlich verordnete Beschränkungen, die die Wirtschaft zum Erliegen gebracht haben, ihrem Ende nähern. Andere Anleger verweisen auf die massive Unterstützung der Kreditmärkte durch Zentralbanken in aller Welt, u. a. die 2.3 Billionen Dollar schweren Pakete der US-Notenbank. Zudem ist da der «Liquiditätsberg», denn Anleger wollen eine Atempause von negativ oder niedrig verzinsten Staatsanleihen und Ankaufprogrammen für Wertpapiere. Hierzu gehört die massive Aufstockung der Bilanz bei der Fed, die nun - unfassbar - auch Anleihen-ETF-Ankäufe beinhaltet. (Ich vermute, die Fed verfolgt das Ziel, eine ähnliche Politik wie die Bank of Japan zu betreiben... Ich frage mich aber, wie das ausgehen wird?)

Dann haben wir den vielleicht mächtigsten Anlagen-Screener von allen: die von der Angst, etwas zu verpassen, - in der Psychologie auch «Fear of Missing out» (FOMO) genannt - getriebene Herdenmentalität. FOMO bezeichnet «eine zwanghafte Sorge, dass andere möglicherweise bereichernde Erfahrungen machen, die einem selbst entgehen». Programmiert durch die längste Bullenmarkt-Rally der Welt, stiegen Anleger rasch wieder ein. Und Volatilität wird dieser Tage natürlich immer auch durch computergestützte Algorithmen verstärkt, die in Millisekunden auf Markttrends aufspringen.
Keine dieser Begründungen macht Sinn. Die sich abflachende COVID-19-Kurse (gesellschaftlich eindeutig eine positive Entwicklung) wird die Dauer der eingeschränkten Wirtschaftsaktivität begrenzen. Am Ende wird COVID-19 ein Ereignis wie ein Erdbeben oder eine Überschwemmung sein: Nach einer gewissen Zeit wird die Gesellschaft zur Normalität zurückkehren. Deswegen lassen sich Nachfrageausfälle vorhersagen und Defizite durch staatliche Konjunkturpakete bewältigen. Das Risiko von umfangreichen ungeregelten Ausfällen wurde durch das Eingreifen der Staaten und Zentralbanken verringert. Dies ist die gleiche Logik, die seit 2008 im Spiel ist und einen Rückgang der Risikoprämie auf nahezu null verursacht hat. In einem ähnlichen Schritt wie 2008 weiten die Zentralbanken die Geldmenge in beispiellosem Umfang aus. Dabei fluten sie die Banken mit schier endloser Liquidität. Im Sinne der eigentlichen Definition von Herdenmentalität sind schliesslich auch die Anleger mit von der Partie.

Doch im Hinterkopf bestehen bei uns dennoch Bedenken. Oder wie es Warren Buffet in einem berühmten Zitat formuliert: «Erst wenn die Ebbe kommt, sieht man, wer nackt zum Schwimmen ging.» Wie die Zukunft aussehen wird, ist nach unserer Ansicht völlig unklar. Der in regelrechte Schockstarre versetzende Zusammenbruch der Rohölpreise und Gerüchte über umfangreiche Ausfälle (Ölproduzenten mangelt es an Absicherungen) machen den Grad der Unsicherheit deutlich. Massive Arbeitsplatzverluste in den USA und ein beispielloser Anstieg von Anträgen auf Arbeitslosenunterstützung haben bei staatlichen Stellen Fassungslosigkeit hervorgerufen. Über die öffentliche Gesundheitskrise und die daraus resultierende Wirtschaftskrise hinaus steuern die USA wahrscheinlich auf eine verheerende Phase der Massenarbeitslosigkeit zu. Verbraucher, auf die 70% des amerikanischen BIP-Wachstums entfallen, werden wahrscheinlich psychologische Narben davontragen. Das wird zu Einschränkungen bei den Konsumausgaben und vermehrtem Vorsorgesparen führen, so dass die Nachfrage längere Zeit schwach bleiben wird. Darüber hinaus wird sich dieses konservative Konsumszenario weltweit in jeder Nation abspielen. Wir bezweifeln, dass chinesische Verbraucher einfach «wieder zur Normalität zurückkehren».

In der Frage, wie die Gesellschaft in der Welt nach Corona reagieren wird, gibt es noch weitere Unbekannte. Social Distancing könnte sich im Verhalten verankern. Das wirft Fragen auf, wer wahrscheinlich Fussballspiele oder Rockkonzerte besuchen oder im Jumbo-Jet auf Reisen gehen wird. Grundsätzlich ist der Weg hin zu einer effektiven Eindämmung der Pandemie nach wie vor mit Unbekannten gepflastert.
Unternehmen (mit Ausnahme von Netflix) agieren im Überlebensmodus. Sie versuchen zuallererst, ihre Mitarbeiter mit deutlich geringeren Umsätzen über die Runden zu bringen. Damit wird einer der grössten Treiber für Kurszuwächse – Aktienrückkäufe und Dividenden – zum Stillstand kommen.

Nicht zuletzt wird es einen sprunghaften Anstieg der öffentlichen Schulden geben. Irgendwann werden sich daran Vorschläge anschliessen, dass jegliches Wachstum abwürgende Sparprogramme vonnöten sind, um die Staatshaushalte in Ordnung zu bringen. Bis dahin jedoch werden einbrechende Steuereinnahmen und steigende Ausgaben dazu führen, dass die Staatsschulden im Verhältnis zum BIP regelrecht explodieren. Dies wird vor allem in Europa gelten und für die EU eine bis ins Mark reichende Herausforderung darstellen.
Konservativen Schätzungen zufolge wird das globale BIP in diesem Jahr um 2-4% schrumpfen. Im Vergleich dazu gingen frühere Prognosen, als Analysten (und auch wir) keine zwingenden Gründe für sinkende Aktienkurse sahen, von einem weltweiten Wachstum von 4-5% aus. In Anbetracht der Unsicherheiten ist es in unseren Augen seltsam, dass sich globale Aktien innerhalb einer Bandbreite von 15% gegenüber ihren Höchstständen von 2020, als noch das Goldlöckchen-Szenario herrschte, bewegen.